"Der Neandertaler in dir" und das Problem mit dem Stress

Die Atmung ist lebenswichtig, und das war sie entwicklungsgeschichtlich natürlich schon von Anfang an. Deshalb wird alles, was mit Atmung zu tun hat, vom Hirn automatisch gesteuert. Das gleiche gilt für andere lebenswichtige Körperfunktionen auch. Da laufen wir wieder auf Autopilot, denn das ist das sicherste.

Und bei Stress wird der Autopilot, verdammt noch mal, auf ÜBERHAUPTGARKEINEN Fall abgeschaltet!!!

Nur deshalb hat Fred, dein Vorfahre, überhaupt überlebt und es gibt heute dich und mich und alle anderen:

Ein Tag im Leben von Fred:

 

Fred, der Neandertaler, macht gerade ein Päuschen. Er liegt unter einem Baum und ruht sich aus. Die Sonne scheint auf seinen Bauch, der sich gemütlich auf und ab bewegt. Vorhin hat er noch einen ganzen Strauch voller wunderbarer süßer Früchte gefunden und sie alle verdrückt. Im Bauch gurgelt es ein bisschen, die Verdauung ist im Gange.

Doch plötzlich: Ein verdächtiges Geräusch!!!

 

 

Fred ist sofort hellwach:

 

Er springt auf, versteckt sich hinter dem Baum und lauscht gespannt. Es könnte ein hungriger Säbelzahntiger sein, ein hungriger Bär, oder, oder…

 

 

 

 

In Sekundenbruchteilen sind Hormone durch Freds Körper geschossen, allen voran das Adrenalin. Schneller, als er denken kann, ist er dadurch in Habacht-Stellung.

 

Dies alles passiert:

 

Ihm stockt erstmal der Atem. So kann er alles um sich herum besser hören.

 

o Dann wird die Atmung schnell und flach: mehr Luft, mehr Sauerstoff!

 

o Das Herz schlägt schneller, kurbelt die Sauerstoffverteilung an.

 

o Aber nicht etwa in den Bauch: die Verdauung ist gerade völlig unwichtig.

 

o Das Blut schießt mit Hochdruck durch den Körper und versorgt zuallererst die Muskulatur, denn es gibt nur Kampf oder Flucht!

 

o Die Muskeln spannen sich überall in seinem Körper an: muss er gleich losrennen? Oder kommt es zum Kampf? Muss er beißen? Schlagen? Sich vor Angriff schützen?

 

o Alle Sinnesorgane sind auf Hochspannung, dabei sieht und hört er nichts anderes mehr, sondern ist absolut fokussiert auf die mögliche Bedrohung.

 

o Die Nackenhaare stehen ihm zu Berge: vielleicht kann er damit ja Eindruck schinden, wenn er größer aussieht?

 

o Er hat echt Schiss. Entsprechend entledigt er sich der Früchte vielleicht noch schnell per Dünnpfiff. So kann er jedenfalls schneller laufen…

 

o Die Nasenflügel beben: was wittert er?

 

Endlich erspäht er die Gefahr: Es ist tatsächlich ein Säbelzahntiger. Aber der sieht aus, als hätte er schon gefrühstückt und sucht sich nur noch ein schönes Plätzchen für seinen Verdauungsschlaf.

 

Fred schleicht vorsichtig davon. Schließlich beginnt er zu laufen. Er läuft und läuft und wird erst langsamer, als seine Höhle in Sichtweite kommt. Puh, Glück gehabt. Hier fühlt er sich sicher. Das Adrenalin ist verpufft. Die Atmung beruhigt sich. Auch der Herzschlag und der Blutdruck gehen wieder runter. Zuhause angekommen legt sich Fred erst einmal hin. Das war ganz schön aufregend. Aber jetzt kommt er wieder zur Ruhe. Auch die Muskulatur entspannt sich. Um die Früchte ist es schade. Aber was soll´s. Er schläft ein, erschöpft von der Anstrengung, und schnarcht dabei ein bisschen.

Merkst du etwas?

Diese Stressreaktionen sind absolut sinnvoll! – falls ein Säbelzahntiger vorbeikommt.

Heute haben wir keine Probleme mehr mit Säbelzahntigern. Stress haben wir aber trotzdem.

Und unser Körper reagiert immernoch genau so, wie der von Fred, dem Neandertaler.

Der Unterschied liegt allerdings darin, dass unser Stress sich nicht so schnell erledigt:

 

Wenn wir Stress haben, dann begleitet er uns meistens über Tage, Wochen oder sogar Jahre. Er beschäftigt uns bei Tag und auch in der Nacht.

 

 Man stelle sich also vor:

  • Du hast Termindruck.
  • Der Chef ist doof.
  • Deine Kinder nerven.
  • Deine Beziehung schwächelt.
  • Du hast Geldsorgen.
  • Die Nachbarn nehmen keine Rücksicht.
  • Auf der Straße ist die Hölle los.
  • Die U-Bahn hat schon wieder Verspätung.
  • Dazu Corona und kein Ende.
  • Die Maskenpflicht ist grässlich.
  • In den Nachrichten gibt es nur Katastrophenmeldungen.
  • ...

 Leider ist da kaum etwas dabei, vor dem wir "weglaufen" können, so wie Fred es tat. Trotzdem:

 

 

Egal was dich stresst, dein Körper reagiert immer, als ob du es mit einem Säbelzahntiger aufnehmen müsstest.

 

 

 Die Stressreaktionen sind im Atem zu beobachten. Aber nicht nur da:

 

Viele gesundheitliche Probleme, mit denen wir heute zu kämpfen haben, haben möglicherweise immer noch mit dem Säbelzahntiger zu tun:

 

o Freds Herz-Kreislauf-System reagiert heftig auf die Bedrohung. Herz-Kreislauf-Probleme sind heutzutage in Deutschland die Todesursache Nummer eins.

 

o Freds Muskulatur spannt sich überall an: in den Beinen und Schenkeln an, weil er womöglich gleich losrennen muss, in den Schultern, Armen und Händen, damit er kämpfen kann. Den Kopf zieht er besser ein, um ihn vor einem Angriff zu schützen. Den Rücken macht er rund und spannt ihn an, panzerartig. Der Kiefer verbeißt sich, wenn es hart auf hart kommt, in seinem Gegner. Und heute? Rückenschmerzen, verspannte Schultern, Zähneknirschen, Bandscheibenprobleme…

 

o Die Verdauung wird bei Stress zur lästigen Nebensache: Leber, Darm und Co. benötigen viel Blut, um die Verdauungsprozesse laufen zu lassen. Das wird aber in einer Gefahrensituation ganz kurzfristig abgezogen. Wenn der Stress nicht gleich wieder weg ist, womöglich aber auch für länger?

 

o Freds Aufmerksamkeit ist gebündelt auf das, was den Stress auslöst. Auch das ist mehr als angesagt, wenn ein Säbelzahntiger im Anmarsch ist. Heute ist unser Stress selten lebensbedrohlich. Stattdessen dauert er und dauert. Aber wie können dann wir loslassen? Das fällt uns schwer. Das Ergebnis können dann Schlafstörungen sein, Gedankenkreisen oder Konzentrationsprobleme.

 

Und: die Aufmerksamkeit für das Schöne im Leben ist erschwert, denn unser Fokus liegt auf der möglichen Bedrohung, sicherheitshalber. Seelen baumeln lassen ist nicht. Stattdessen ist der Weg in den Burnout gebahnt.

 

Diese Liste ließe sich noch fortführen. Aber zurück zum Atem:

 

Du hast bis hierher gelesen, weil du das Gefühl hast, dass dein Atem irgendwie falsch geht.

Der Atem fühlt sich vielleicht zu flach an, zu weit oben oder zu eng.

 

 

Gut möglich, dass du an einer oder an mehreren Stellen schon den Gedanken hattest:

 

Oh ja, hier könnte die Ursache für mein Problem liegen!

 

Aber auch:

 

Oh je, wie komme ich da raus?

 

Hier kommt jetzt eine gute Nachricht:

 

Der Atem ist ein Wechselwirkungswunder, auch „anders herum“:

 

Denn wenn sich unser Atem verändert, so verändern sich andere Körperprozesse automatisch mit.

Im Gegensatz zu Herzschlag, Blutdruck oder Verdauung können wir unseren Atem willentlich beeinflussen. Dies können wir ganz direkt tun oder auch durch die indirekte Regulation mit der  Atemarbeit. Da die Atemarbeit über das Unbewusste funktioniert, ist der Effekt nachhaltiger.

Somit gibt uns der Atem die Chance auf eine grundlegende Veränderung unserer Befindlichkeit.